Jörn Wiertz

Geschichten

Illusionen über das Privateigentum

Jürgen setzt den Blinker und biegt rechts ab. Den Weg kennt er mittlerweile. Unzählige Besichtigungen, mit und ohne Makler, liegen hinter ihnen. Als das Haus endlich vor ihnen liegt, veranstaltet er ein Hupkonzert, das sich anhört, als käme er geradewegs vom Standesamt. Die Hühner auf dem Nachbargrundstück nehmen fluchtartig reißaus.

Noch vor einer Stunde saßen sie beide in den weichen Polstersesseln des Notars, der ihnen in aller Ausführlichkeit die Details des Kaufvertrages erläuterte.  Erst danach durften sie unterschreiben.

Jetzt gehört das Haus ihnen. Lisa auf dem Beifahrersitz jubelt.
„Juchhu! Das ist jetzt Unser! Unser Haus! Nur unser!“

Kein Vermieter mehr, der darüber wacht, dass sie die Miete pünktlich überweisen, der aber unerreichbar ist, wenn im tiefsten Winter die Heizung ausfällt.

Kein Hausmeister mehr, der wie ein Blockwart kontrolliert, ob sie ihren Müll auch wirklich in die richtige Tonne entsorgen.

Keine Nachbarn mehr, die zwar das leiseste Geräusch in der hellhörigen Altbauwohnung stört, die aber gleichzeitig auf dem Boden liegen, um auch nichts zu verpassen, was sich unter ihnen abspielt.

Eine halbe Stunde später sitzen sie auf der Terrasse ihres neuen Hauses. Jürgen öffnet eine Flasche Sekt und schenkt ein:

“Das muss gefeiert werden. Prost!“

“Prost.”Die Gläser klirren. Doch Lisa ist in Gedanken bereits mit der Gestaltung des Gartens beschäftigt.

„Dahinten hin setze ich den Rittersporn; rechts daneben die Dahlien. Die Funkien pflanzen wir in den Vorgarten.”

Eine schwarze Katze unterbricht ihre Planungen. Gemächlich trottet sie über die Wiese, bleibt in sicherem Abstand stehen und mustert die Neuankömmlinge mit argwöhnischem Blick.

“Du wirst dich schon an uns gewöhnen. Wir wohnen nämlich jetzt hier.“

Mit leuchtenden Augen macht sie Jürgen auf die Katze aufmerksam, der überlegt, ob er sie noch in diesem oder erst im nächsten Jahr renovieren soll.

„Schau mal, eine Katze haben wir auch schon!“

Der ist weniger begeistert.

„Katzen und Hunde kommen nicht ins Haus. Das war die Abmachung.“

Lisa kontert.

„Sie ist ja nicht im Haus, sondern im Garten.“

Sechs Wochen später. Katzengeruch im Wohnzimmer. Jedenfalls behauptet das Jürgen.

“Auf dem Sofa riecht es nach Katze.“

Lisa steckt die Nase ins Zimmer und schnüffelt.

„Ich rieche nichts. Außerdem haben wir keine Katze. Vielleicht ist es ja etwas anderes.“

Als er ein paar Wochen später in aller Frühe die Treppe herunter stolpert, dringt lautes Poltern aus dem Wohnzimmer. Er stürzt hinein und sieht gerade noch, wie ein junger, pechschwarzer Kater durch das gekippte Sprossenfenster hinaus in den Garten verschwindet.

„Ich hatte doch Recht! Wir haben xeine Katze“, berichtet er beim Frühstück über seine morgendliche Entdeckung: „Abends klettert sie durch das Fenster ins Zimmer, übernachtet auf dem Sofa und verschwindet am Morgen wieder. Ich habe sie heute in der Früh überrascht. Wir sollten das Fenster nachts besser schließen.“

An einem Sonntag im August kommen Jürgens Eltern zu Besuch. Nach der obligatorischen Führung durch das neue Heim lockt frisch gebackener Pflaumenkuchen auf der Terrasse. Allerdings lockt er auch die Wespen.

Zunächst ist es nur eine. Alle Versuche sie mit hektischem Umsichschlagen zu verscheuchen, scheitern kläglich. Die Wespe ist schneller, vollführt eine Schleife und sitzt, kaum ist die schlagende Hand an die Kuchengabel zurückgekehrt, schon wieder auf dem Teller.

Dann ist sie für kurze Zeit verschwunden. Doch noch bevor die Gesellschaft entspannt aufatmen kann, kehrt sie mit Verstärkung zurück. Erst sind es drei, dann sechs. Und es werden immer mehr. Von einer entspannten Kaffeetafel kann keine Rede mehr sein.

Lisa schlägt vor, ins Haus zu gehen.

„Ich glaube, wir gehen besser rein. Da haben wir unsere Ruhe. Gebt acht, dass die Wespen draußen bleiben.“

Sie überlassen die liebevoll zusammengestellte Tischdekoration den Wespen, fliehen ins Wohnzimmer und genießen den Kuchen. Dann philosophieren sie über die Vorzüge des privaten Eigentums an sich und plaudern entspannt über die Frage, wie schön es sich anfühlt, wenn einem niemand in die Quere kommt, weil es einem ganz allein gehört.

Plötzlich tritt Lisa heftig auf Jürgens Fuß. Als der sie böse anschaut, deuten ihre Augen unauffällig in Richtung Sitzecke. Jürgen folgt ihrem Blick und sieht gerade noch, wie eine Maus unter dem Sofa verschwindet. Ein, zweimal lässt sie sich noch blicken, dann bleibt sie verschwunden.

„Hoffentlich merken deine Eltern nichts. Du hast sie doch gestern gefangen und nach draußen gebracht. Wie kommt sie dann wieder rein?”

Am Abend begibt sich Jürgen auf die Suche. In einer Ecke hinter dem Sofa wird er fündig. Dort ist ein kleiner Spalt, groß genug für eine Maus. Der Fußboden scheint hier etwas faulig, die Ränder aber sind hell.

„Da ist sie reingekommen. Ich schraube erst mal ein Brett darüber, dann haben wir Ruhe.

“Wenn wir deinen Eltern das mit dem Marder erzählt hätten, wären die vom Glauben abgefallen.“

Das mit dem Marder war so eine Sache. Schon bei der ersten Besichtigung hatte es hinter der Holzverkleidung auf dem Dachboden ordentlich gerumst.

“Das ist nur ein Marder. Kein Problem. Lassen sie ein paar Tage laute Musik laufen, dann ist er weg.”

Der Makler beruhigte sie.

Doch Jürgen und Lisa sind angesichts der Lebendigkeit in ihrem Schlafzimmer eher erfreut und unternehmen nichts. Erst als der Schreiner sie darauf hinweist, dass Marder durchaus größere Schäden anrichten können, sorgt Jürgen für laute Musik.

Doch weder Rock noch Klassik beeindrucken den Eindringling. Als Jürgen ein Brett löst, um sich die Sache etwas genauer anzusehen, findet er hinter der Verkleidung alles, nur keine Dämmfolie mehr. Die hatte der Marder vollständig beseitigt. Der komplette Dachstuhl muss neu isoliert werden.

Jürgen verstopft an der Außenfassade alle möglichen und unmöglichen Eingänge, umwickelt die Fallrohre mit Alufolie, um den ab sofort ungebetenen Gast, davon abzuhalten, wieder ins Haus zu gelangen.”

Der legt von nun an, um seine Ansprüche zu unterstreichen, jeden Morgen einen stinkenden Haufen vor die Haustür. Erst nach einigen Wochen gibt er schließlich klein bei und sucht sich ein neues Zuhause. – Auf dem Motorblock des Autos.

Dass es im Haus Spinnen gab, überraschte sie nicht wirklich. In einem alten Haus muss man mit so etwas rechnen. Um ihrer habhaft zu werden, begibt  sich Jürgen einmal in der Woche auf die Suche und macht jeder Spinne, der er habhaft wird, den Garaus.

Die Wohnung wirklich davon zu befreien, erweist sich allerdings als unmöglich. Irgendwo finden sie immer irgendwelche Ritzen, in denen sie unerreichbar sind. Hat er einmal Erfolg, nimmt augenblicklich ein Nachfolger dankend den frei gewordenen Platz ein.

Als es draußen kalt wird, streben auch die dicken Spinnen ins Warme – die ganz dicken. Sie verzieren Waschbecken und vergnügen sich auf der schneeweißen Wohnzimmertapete.

„Nein!“, schreit Lisa, als Jürgen mit dem Pantoffel ausholt, um ein besonders großes Exemplar zu eliminieren. „Den Fleck bekommen wir nie wieder weg!“

Sie rennt in die Küche, kommt mit einem Glas zurück und drückt es Jürgen in die Hand. Der stülpt es über den Eindringling, schiebt einen Karton darunter und transportiert das Prachtexemplar – tierfreundlich, wie er nun einmal ist, nach draußen. Wo es angesichts der angekündigten Minusgrade nicht lange überleben wird.

Ein schnappen hinter seinem Rücken lässt ihn Böses ahnen. Die Haustür ist ins Schloss gefallen. Weder Klingeln noch lautstarkes Türeklopfen findetn den Weg ins Ohr seiner Gemahlin. Die hat sich ihre dicken Kopfhörer aufgesetzt und entspannt sich bei klassischer Musik. Erst als Jürgen eine Leiter holt, auf nassen Socken zu ihrem Fenster hochklettert und wie wild herum fuchtelt, bemerkt sie ihn irgendwann.

Mittlerweile haben beide sich daran gewöhnt, dass Haus und Hof nicht ihnen allein gehören.

Die Netze, mit denen sie anfangs versuchten, die Amseln vom Verzehr ihrer Blaubeeren abzuhalten, bleiben zusammengerollt. Wenn diese ihren Jungen jetzt etwas zu essen bringt (das Nest befindet sich in dem Busch neben der Terrasse), dämpfen sie rücksichtvoll ihre Stimmen.

Einen ihrer Walnussbäume haben sie an die Eichhörnchen und die Raben abgetreten. Im Herbst legen sie der Katze regelmäßig etwas Futter in eine trockene Ecke. Der Igel findet in der Garage ein warmes Winterquartier. Und als sie den Marder eines Tages tot im Garten finden, macht sie das – bei aller Freude darüber, den Plagegeist endlich los zu sein – sogar ein bisschen traurig.

Jörn Wiertz, Oktober 2025