Unser Urlaub (mit Ryanair) war priority. Der Urlaub zwar auch, aber um den soll es hier gar nicht gehen. Es geht um den Flug. Genau genommen nicht einmal um diesen, sondern um das Drumherum. Das nämlich war priority.
Ach, Sie wissen nicht, was priority ist? Kein Fehler. Meine Frau wusste es auch nicht. Beim Blick auf die Buchungsunterlagen schaute sie mich fragend an: „Priority, kann man das essen?“
Da der Preis bei der Suche nach dem Urlaub deutlich im Vordergrund gestanden hatte (runter kommen sie immer), war ich auf diese Frage eher unvorbereitet.
„Waren halt am Billigsten“, gab ich mich wortkarg. „Wer billig fliegt, muss eben zahlen“, fügte ich spitz hinzu um meine Unwissenheit nicht allzu offensichtlich zu machen.
„Priority, was ist das überhaupt, hab‘ ich ja noch nie gehört.“
„Naja, irgendwie sind wir was Besseres.“
„Hab‘ ich mir glatt gedacht. Und wie äußert sich das?“
Da ich im Englischen nicht besonders sattelfest bin und Latein sich mir eher als Fremdsprache offenbart, erkundigte ich mich bei Google. Vorrang, Vortritt oder Vorrecht, wurden mir angeboten.
„Und welches Vorrecht haben wir? Fliegen wir schneller, können wir die Beine austrecken oder dürfen wir näher am Notausgang sitzen?“
„Sitzplätze werden meistbietend versteigert. Damit das nichts zu tun.“
„Wir müssen also stehen?“
„Ist vermutlich aus Sicherheitsgründen nicht zulässig, sitzen dürfen wir schon. Wir dürfen ein zweites Handgepäckstück mit an Bord nehmen. Das darf sogar 10 Kilogramm wiegen. Das Zweite müssen wir allerdings unter dem Sitz verstauen.“
„Uns was haben wir davon? Bisher sind wir mit unseren Sachen doch auch so klargekommen. Probleme gab’s jedenfalls noch nie.“
Ich musste zugeben: Eine Nagelschere hier, eine volle Wasserflasche dort, das war eigentlich alles. Unser Gepäck jedenfalls hatte allen Kontrollen widerstanden.
Der unwissenden Nichtflieger sei an dieser Stelle auf die besondere Bedeutung der Gewichtsfrage hingewiesen:
Flugtechnisch ist es wichtig zu wissen, wie schwer ein Flugzeug ist. Ein schwerer Flieger braucht, insbesondere beim Start, und natürlich beim Flug, mehr Treibstoff. Zuviel ist aber auch nicht gut. Mehr Treibstoff wiegt und zusätzliches Gewicht bedeutet wiederum mehr Treibstoff.
Da sich das Ansteuern einer Tankstelle, besonders über dem Meer, schwierig gestaltet, ist jeder Flugkapitän (oder die Kapitänin – falls es sie gibt) gut beraten, genug davon mitzunehmen.
Aber auch so. Gepäck, welches Mensch mit in den Urlaub zu nehmen gewohnt ist, kostet extra. Jedenfalls seit die Billigflieger gemerkt haben, dass man damit Geld verdienen kann. Mitunter ist der Koffer teurer als der ganze Flug. Bringt er mehr als die erlaubten Kilo auf die Waage, kostet’s doppelt. Gedankenlos den Koffer packen wird teuer. Nicht aufgepasst, kostet das Wanderoutfit statt 25 Euro, das Doppelte. Pro Person und Strecke versteht sich.
Deshalb sehen wir bei Reiseantritt dann auch aus, als ging es nicht in den sonnigen Süden, sondern hoch hinauf zum Polarkreis: Pullover (mindestens einer), dicke Jacke, klobige Wanderschuhe.
Das Gewicht des Fliegers verändert sich auf diese Weise genau um Null Gramm. Mein Geldbeutel aber spürt den Unterschied. Ungerecht ist die Regelung allemal. Warum soll meine priority-Frau mit knapp 50 kg mehr zahlen , als ihr non-priority Nachbar mit satten 120 kg. Wenn schon, denn schon: Flugpreise nur nach Gesamtgewicht!
Das als weiterer Vorteil versprochene Warten am Gepäckband würde auch nicht entfallen.
Deren 18 Kilo ließen sich zwar aufteilen, aber ein Koffer Wartezeit würde trotzdem übrig bleiben. Schließlich waren wir zu zweit. Abgesehen davon, empfinde ich es als non-priority, zusätzliche 18 Kilo durch den Flughafen zu schleppen und in den Flieger zu bugsieren. Man wird ja nicht jünger.
Die Anschaffung neuer Koffer hätte sich für den einen Flug auch nicht gelohnt. Angesichts der aktuellen Klimadebatte, erschien uns die Spekulation auf weitere Flugreisen aber als zu gewagt.
Egal, ich sehe mich jedenfalls jetzt mit zwei Rucksäcken plus Koffer vollgestopft auf dem Weg zum Flieger.
Weniger Kopfzerbrechen bereitet mir, dass ich mir den Fußraum mit dem zweiten Handgepäckstück teilen soll. Dass nämlich gehört bei priority unter die Füße. Was für Langbeiner ein Problem darstellt. Meine Frau dagegen freut sich. Sie verstaut ihren Rucksack schon immer dort. Bei ihrer eins vierundfünfzig Körpergröße reichen die Füße nämlich nicht auf den Boden. Und damit die während des nicht Fluges rastlos hin- und her baumeln, bietet sich der als Fußablage geradezu an. Aber das hat sie schon gemacht, als Priority noch nicht mal ein Gedanke war.
Für mich wäre Priority eher hinderlich. Den Fußraum brauche ich nämlich für meine Füße. Und für meine Wanderschuhe. Die Zwiegenähten. Damit der Koffer nicht zu schwer wird und ich ihn noch zu bekomme, ziehe ich die nämlich an. Im Flugzeug, wo ich seltener wandere, entsprechend aus. Sie stehen dann im Fußraum. Mit Priority könnte ich sie sogar verpacken und müsste sie bei jeder Sicherheitskontrolle nicht auch noch ausziehen.
Lassen wir die Koffer dahinschwinden und wenden uns einem weiteren Vorteil zu, dem Boarding.
„Unter Boarding (dt.: Einsteigen, an Bord gehen)“, so erläutert Wikipedia dem flugtechnischen Laien „versteht man die Phase zwischen dem Aufruf an die Passagiere, sich zu dem Flugsteig zu begeben, von dem aus das für den gebuchten Flug bereitstehende Flugzeug erreichbar ist, und dem Zeitpunkt, an dem die Flugzeugtüren verriegelt werden.“ Eine Zwischenwelt. Nicht mehr hier und noch nicht weg.
Während jenseits der Scheibe ein Flugzeug nach dem anderen mit Ziel woanders abhebt, versammeln sich die Fluggäste in einer Art Raum mit vielen, manchmal bequemen Sesseln, lassen sich fallen, tun entspannt und warten auf das Kommando.
„Die Passagiere des Fluges FR 375 werden gebeten, sich zu Flugsteig B53 zu begeben“.
Kaum ist das erste Wort verklungen, sind die ersten aufgesprungen, drängeln sich vor dem letzten Hindernis, dass sie von der ersehnten Reise abhält. So als könnten sie zu spät kommen und drohe der Flieger ohne sie abzuheben.
An dieser Stelle wird priority wieder wichtig. Neuerdings nämlich entzweit die Reisenden ein Schild, teilt sie in zwei Klassen: Rechts non-priority, links priority. Priority hat natürlich Vorrang. Die mit dem non müssen warten.
Nach fünf oder zehn Minuten, am Boardingschalter bewegt sich nach wie vor nichts, hat sich eine Schlange von knapp zwanzig Metern gebildet. Bei den Priorities ist es knapp die Hälfte.
Teilnahmslos vor mich hin dösend, beobachte ich mit gespannter Aufmerksamkeit das Geschehen. Nicht zu früh und nicht zu spät! Wann ist der richtige Zeitpunkt?
Endlich, am Schalter bewegt sich was. „Sollen wir?“ Meine Frau zerrt ungeduldig am Ärmel. „Die bei priority ist noch ganz kurz.“
Ich nicke, nehme den Rucksack und stehe schon in der Reihe bevor die von links herannahende Reisegruppe uns den Platz streitig machen kann.
Dann geht‘s los. Priorities first: Noch einmal zur Sicherheit die Pässe vorzeigen, die Bordkarte scannen, dan. ist der Weg ist frei. Für knappe zehn Meter. Die Tür zum Rollfeld ist verschlossen. Wir müssen warten. Es dauert. Es ist kalt und zieht wie Hechtsuppe. Mein priority-Rucksack wird schwerer. Noch bevor ich ihn absetzen kann droht eine Aufseherin: „Rücken Sie bitte enger zusammen, damit wir weiter machen können. Sonst kommen wir ja nie weg. An den Seiten ist noch genug Platz.“
Der Gang füllte sich jetzt auch in der Breite. Die Luft wird stickiger. Wie viele Menschen doch in so ein Flugzeug gehen.
Sehnsüchtig wandert mein Blick zurück. Nur noch wenige non-priorities sitzen bequem in den zurückgelassenen Sesseln.
Eine Ewigkeit später, als sich endlich alle im Gang drängeln, öffnet sich die Tür. Wir dürfen weiter. Geflogen sind wir dann alle gleichzeitig.
Jörn Wiertz, Oktober 2019
