Irgendwann war er einfach da, saß auf der Terrasse des kleinen Cafés am Rande des Platzes. Schlürfte an einem Cappucino oder an dem Glas Wasser und schaute zu.
Kaum öffneten sich am Morgen die Türen, nahm Beppo seinen Platz ganz vorn auf der Veranda ein, dort hatte er den besten Überblick und räumte ihn erst am Abend, wenn das Café seine Pforten schloss.
Anfangs jedenfalls. Als die Bedienung ihn noch baten, den Stuhl freizugeben, das Café sei jetzt geschlossen. Später ließen sie den Stuhl einfach stehen. Es gab nichts an ihm auszusetzen. Er war freundlich, stets ordentlich gekleidet und gab am Abend ein ordentliches Trinkgeld. Mittlerweile gehörte auch Beppo zum Inventar.
Dass er nicht schon immer dort gesessen hatte, daran erinnerten sich nur noch die Älteren.
Er saß nicht nur da und schaute den Menschen zu, wie sie den Platz überquerten. Er sah in sie hinein! Sein Blick machte Mut, wenn Sorgen sie plagten. Ein Kopfnicken brachte ihnen Klarheit, wenn sie mit einer Entscheidung rangen.
In all den Jahren war Beppo zu so etwas, wie das Gewissen der Menschen in der kleinen Stadt geworden.
Viele kannte er noch aus Zeiten, als ihre Mütter sie im Kinderwagen über den Platz schoben. Er hatte mit angesehen, wie sie heranwuchsen, älter wurden, registrierte die wechselnden Partner an ihrer Seite und wie sie sich in der Zeit änderten. Sah er in ihre Augen, wusste er, ob sie glücklich waren oder ob sie Sorgen plagten.
Früh am Morgen huschten müde Gesichter über den leeren Platz. Später füllte sich der Platz. Die Menschen gingen ihrer wohl wichtigsten Beschäftigung nach: Kaufen. Am Abend übernahmen die Jungen die Regie, genossen fröhlich ihr Dasein auf dem Brunnenrand oder scharrten sich um dröhnende Booster.
Niemand ging achtlos an Beppo vorbei. Wer den Platz überquerte, vergewisserte sich mit einem kurzen Blick, ob Beppo sich auch wirklich da befand, wo er hingehörte.
Selbst diejenigen hoben ihre Köpfe, die in Trance wippend über das Pflaster joggten oder so gebannt auf die Realität ihrer Displays starrten, dass sie die Welt außerhalb ihres Smartphones nur noch als störendes Ereignis wahrnahmen.
Schallte ein „Guten Morgen“ zu ihm hinüber, beantwortete Beppo es stets mit einem freundlichen Kopfnicken.
„Dahinten in der Ecke, dass ist Beppo!“, deutete die Stadtführung, wenn sie die Sehenswürdigkeiten des Ortes präsentierte, mit einem dezenten Blick in seine Richtung.
Kinder waren direkter. Sie streckten unbekümmert den Arm aus und riefen zu ihm herüber „Beppo! Beppo!“
Nicht selten stürmten sie auf ihn zu und machten erst halt, wenn er die Arme hob, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Dann zog er ein Schokoladenplätzchen aus seiner Tasche und überreichte es feierlich seinem vor Stolz um einige Zentimeter gewachsenen Gegenüber.
Natürlich saß Beppo nicht immer an seinem Platz. Sonntags fehlte er ganz und in der Woche ging er manchmal musste er einkaufen oder verschwand, um etwas zu erledigen. Jeden Mittag, wenn er eine Runde durch den Stadtpark spazierte, blieb sein Stuhl leer. Ein Schild mit der Aufschrift „reserviert“, hielt ihn frei.
Wo er wohnte, wie er jenseits seiner Anwesenheit auf der Terrasse lebte, wovon, und ob überhaupt, wusste niemand. In all den Jahren fehlte Beppo eigentlich nie. Blieb das Café aus irgendwelchen Gründen einmal geschlossen, saß er statt dessen auf einer der Bänke am Rande des Platzes.
Nur einmal, als das Café wegen eines Wasserschadens mehrere Wochen renoviert werden musste, gönnte er sich eine Auszeit und blieb verschwunden.
Im Winter wenn es kalt war, wechselte Beppo seinen Platz. Er ging nach Drinnen und betrachtete die Welt durch die Fensterscheibe. Doch so oft er konnte, setzte er sich draußen auf seinen angestammten Platz. Manchmal nur für wenige Minuten.
Aber jetzt war Sommer. Und es war ein warmer Abend. Die Plätze auf dem Brunnenrand wurden langsam knapp. Ein Liebespaar schmiegte sich eng aneinander; fast noch zu jung, um überhaupt eines sein. Ihre Augen führten eine lebendige Unterhaltung. Die Lippen bewegten sich nur, wenn sie sich küssten.
Beppo schaute fasziniert zu. Alte Erinnerungen wurden wach. Ein zufriedenes Lächeln glitt über sein Gesicht. Er wurde müde, legte seinen Kopf auf den Tisch und schloss die Augen.
„Ob mich wohl jemand vermissen wird,“ war das Letzte, was er dachte.
Doch da hatte er sich gründlich getäuscht. Die Nachricht über seinen Tod verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Der Hashtag beppoisttot hatte in kürzester Zeit hunderte von Followern. Der Beerdigungszug war lang, eine Kapelle spielte und der Bürgermeister hielt eine Rede.
Beppos Stuhl blieb von nun an leer. Ihn zu benutzen, verbot sich von selbst. Ihn weg zu stellen, traute sich auch niemand. Außerdem war da ja nicht ein Stuhl zu viel, sondern ein Mensch zu wenig.
Was sollte geschehen? In der Lokalzeitung und im Internet entspann sich eine rege Diskussion. Schließlich wurde man sich einig: Beppo musste wieder an seinen Platz.
Und nach einigen Monaten war er tatsächlich wieder da! In in Stein gemeißelt blickte er wie eh und je, zu den Menschen hinüber.
Und so mancher, der Beppo aus alter Gewohnheit heraus gegrüßt hatte, schwor Stein und Bein: Er hat mir zugenickt!
Jörn Wiertz, August 2024
