Jörn Wiertz

Geschichten

Grenzerfahrung

Gestern war sie noch so, wie ich sie kannte. Eine Wanderroute hatte uns an ihr vorbeigeführt. In sicherem Abstand. Ein unüberwindbarer Stacheldrahtzaun, dahinter ein Minenfeld und Wachtürme, in denen die Soldaten saßen, die die Grenze beschützten. Sie schossen auf alles, was sich bewegte – egal ob Mensch oder Kaninchen. Mit so einer Grenze bin ich aufgewachsen.

Ich kam gerade in die Schule, als die Deutsche Demokratische Republik sie mit einem eintausendvierhundert Kilometer langen Stacheldrahtzaun verriegelte – damit ihr die Bürger nicht wegliefen.

Immer wieder entbrannten Diskussionen darüber, ob diese DDR denn überhaupt ein Staat sei. Mein Schulatlas tat so, als gäbe es zwar die Grenze, den Staat dahinter aber nicht. Und die Bildzeitung versah seinen Namen noch bis zuletzt mit Gänsefüßchen.

Gespräche in der elterlichen Familie handelten meist davon, wie Kaffee und Orangen geschickt zu verpacken seien, damit sie bei den Kontrollen nicht entdeckt wurden. Die waren nämlich verboten. Verdächtige Pakete wurden durchsucht und gegebenenfalls beschlagnahmt.

Als ich als junger Erwachsener Dinge aussprach, die so gar nicht ins Weltbild des Westens passten, bekam ich oft genug zu hören: “Dann geh doch nach Drüben!” Mehr als diese Verbindung gab es für mich nicht.

In der Schule lernten wir, dass dieser Teil eines fernen Tages wieder zum richtigen Deutschland gehören würde. Wirklich zu glauben schien das allerdings niemand.

1989 änderte sich das. Die Diktatur in der DDR befand sich in Auflösung. An diesem Sonntag sollte die Grenze erstmals geöffnet werden. Wer wollte, der konnte nach Drüben.

Wir wollten schon. Angesichts der Tragweite der Ereignisse wollten wir zumindest ein wenig dabei gewesen sein. Doch wo gibt es hier einen Grenzübergang. Die Vermieterin unserer Ferienwohnung weiß Rat.

“Fahren sie die kleine Straße rechts hoch, dann links. Zwischen Simmershausen und Oberweid können sie einen gemütlichen Spaziergang nach Drüben machen.”

Wo denn genau der Übergang sei, wollen wir wissen.

“Den können sie gar nicht verfehlen. Reihen Sie sich einfach in die Autoschlange ein.”

Gesagt, getan. Mit der für eine Familie mit Kindern üblichen Verspätung machen wir uns auf den Weg. Die Sonne steht bereits hoch am Himmel, umgeben von einem makellosen Blau.

“Nicht schon wieder wandern. Das ist sooooo langweilig.“

Unser Achtjähriger protestiert.

Die kleine Schwester schließt sich an.

„Meine Beine tun soooo weh. Ich kann gar nicht laufen.“

Humpelnd und mit schmerzverzerrtem Gesicht steigt sie irgendwann doch ins Auto. Vermutlich, weil ich angedeutet habe, es könnte sich ja unterwegs die Möglichkeit ergeben, ein Eis zu essen.

Doch die Ruhe ist nicht von langer Dauer. Kaum sind wir um die erste Ecke gebogen, ertönt auf der Rückbank ein zweistimmiger Chor.

“Wann sind wir denn endlich daaaa?”

Die Fahrt dauert keine zehn Minuten. Zäh fließenden Verkehr und Parkplatzsuche auf einem provisorisch hergerichteten Acker inbegriffen.

Der Grenzübergang: Mehr als ein Loch im Zaun ist es nicht. Irgendjemand hat es über Nacht hineingeschnitten; die Maschen sauber von oben nach unten durchtrennt, zur Seite hin aufgeklappt und die Enden mit Kabelbinder befestigt. Der Durchgang ist gerade so breit, dass man hindurchgehen kann. Er erinnert mich an den Vorhang eines Varietés.

Der Bach nebenan ist zubetoniert. Die Röhren, durch die er sich zwängen muss, sind so verwinkelt, dass nicht einmal einer Maus die Flucht gelingen würde.

Natürlich gibt es Grenzposten. Rechts neben der Lücke sitzt ein Volkspolizist, links ein Grenzbeamter aus der BRD. Sie kontrollieren die Ausweise. Denn Ausweise sind Pflicht. Denn noch existiert die Deutsche Demokratische Republik. Und wer ins Ausland reist, muss sich ausweisen.

Der von Drüben blickt ebenso freundlich wie sein westdeutscher Kollege. Beide sitzen auf einem Rot-Weiß gestreiften Campingstuhl. Bunte Sonnenschirme beschatten ihre Köpfe. Wie Grenzschützer sehen sie eigentlich nicht aus; eher wie sonnenhungrige Urlauber, die sich verirrt haben.

Eine endlose Karawane schlängelt sich quer über die Wiese den Hügel hinauf. Viele haben sich auf den Weg gemacht. Ein Sonntagsspaziergang ins unbekannte Nachbardorf. Jahrzehntelang haben sie nicht einmal dessen Kirchturmspitze zu Gesicht bekommen.

Neidisch blickten wir ihnen hinterher. Wir haben unsere Personalausweise zuhause vergessen. Meine Frau geht auf die nicht besonders verteidigungsbereit aussehenden Grenzer zu.

„Leider haben wir unsere Ausweise vergessen. Trotzdem würden wir gerne einmal rüber.“

Der Westler wirft einen fragenden Blick auf seinen Kollegen aus dem Osten. Der blickt lächelnd auf die Menschenschlange hinter sich.

„Wenn Sie versprechen, wieder zu kommen …“.

Bis nach Oberweid kommen wir allerdings nicht. Oben auf dem Hügel, das Dorf schon vor Augen, rennen die Kinder plötzlich zurück, den Berg hinunter. Ohne ein Zeichen unseres Einverständnisses abzuwarten, stürmen sie zurück in den Westen.

“Papa! Auf dem Parkplatz steht ein Eiswagen!”

Wir haben Mühe, sie einzuholen.

Jörn Wiertz, August 2025