Jörn Wiertz

Geschichten

Alles unter Kontrolle

 

Grenzen sind eine ernste Angelegenheit. Wer sie überschreitet, begibt sich in Gefahr. Kriege, um Grenzverläufe zu ändern, sind keine Seltenheit.

Europa baute seine Binnengrenzen – jedenfalls im westlichen Teil – nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend ab. Europäische Regeln wurden vereinheitlicht, Zuständigkeiten auf die EU verlagert und Zölle abgebaut. Mit dem Schengener Abkommen entfielen die Kontrollen an den Binnengrenzen.

Man konnte mir nichts dir nichts von Deutschland nach Holland, Frankreich oder Spanien reisen – und bei der Rückkehr feststellen, dass die Personalausweise den Urlaub daheim auf dem Küchentisch verbracht hatten.

Neuerdings geht es wieder in die Gegenrichtung. Die Vorstellung, das weltweite Chaos ließe sich ausgerechnet an Deutschlands Grenzen stoppen, hat Konjunktur. Die Weitsichtigeren schaffen es noch bis zu den europäischen Außengrenzen.

Politiker verspüren Handlungsdruck. Also wird gehandelt. Egal, ob es etwas nutzt. Hauptsache, man tut so, als hätte man etwas getan.

Langsam rollen Achim und Irene vom Campingplatz. Ein schönes, langes Wochenende mit ausgedehnten Wanderungen liegt hinter ihnen. Auf der belgischen Seite des Hohen Venns.

Ein einladender Platz: Am Fluss gelegen, die Zelte unter hohen Bäumen und ein sonniges Plätzchen für den neuen Wohnwagen.

Die Besitzer: Ein belgisches Pärchen, dessen verrostetes Auto als Wahrzeichen vor der Anmeldung parkt. Und ein IT-Aussteiger aus dem benachbarten Aachen, der sich seinen Aufenthalt durch Mithilfe im Büro verdient, gaben dem Platz eine ganz persönliche Note.

Um die Feuerschale am Abend versammelten sich Camper aus Schweden, Dänemark, Frankreich, Spanien und sogar aus Island. Und tauschten ihre Erlebnisse aus.

Ihr kleiner Wohnwagen erregte nicht nur wegen seiner Größe (er misst nur zwei mal drei Meter) ganz besondere Aufmerksamkeit. Die ballonförmig gewölbten Radkappen im Stile der sechziger Jahre und die Retrolackierung liegen im Trend.

Lieber rückwärts in die Vergangenheit blicken, als in eine ungewisse Zukunft. Da weiß man wenigstens, was auf einen zukommt.

Als sie auf die Landstraße einbiegen, vernimmt Achim vom Beifahrersitz Irenes unsichere Stimme:

„Willst du nicht doch besser die Landstraße nehmen?“

Zweifelnd blickt sie auf ihr Smartphone mit der Navigation.

„Das meinst du nicht ernst. Du willst nicht wirklich die ganzen zweihundert Kilometer bis nach Hause über die Landstraße gurken.“

Irene schüttelt energisch den Kopf. „Natürlich nicht. Nur bis zur Grenze.“

„Und warum?“

„Hier steht etwas von Polizeipräsenz an der Strecke.“

„Und wie kommst du darauf, dass die Präsenz hinter der Grenze endet?“

„Wegen der aktuellen Notlage – Sicherheit und Ordnung in Deutschland sind aktuell ja hochgradig gefährdet. Damit alles wieder gut wird, gibt es seit Freitag lückenlose Grenzkontrollen. Damit keine Illegalen mehr nach Deutschland kommen.“

„Aber wir sind doch nicht illegal.“

„Eigentlich nicht – aber weiß das auch die Polizei?“

Irene gibt sich geschlagen.

„Meinetwegen. Wird schon nicht so schlimm werden. Stau ist jedenfalls nicht gemeldet.“

Achim nimmt den Weg über die Autobahn. Schon auf dem Beschleunigungsstreifen lächeln ihn die orangefarbenen Bogenlampen an. Erinnerungen werden wach. Er wird nostalgisch. Die Fahrt bis zum Grenzübergang Aachen-Lichtenbusch wird zu einer Reise in die Vergangenheit.

„Über diese Autobahn sind wir damals nach Paris gefahren. Unsere erste gemeinsame Reise. Eine beleuchtete Autobahn hatte ich bis dahin noch nie gesehen. 

Mit meinem alten, klapprigen fünfzehnhunderter VW Variant. Wir sind spät abends losgefahren, haben unsere Koffer mitten in der Nacht im Hotel gegenüber dem Gare du Nord abgegeben, sind raus in einen Pariser Vorort gefahren, haben das Auto dort abgestellt, den Zündverteiler ausgebaut und ein Schild an die Windschutzscheibe geklebt: Auto kaputt – natürlich auf Deutsch. Dann sind wir mit der Metro zurück zum Hotel. Das muss Silvester dreiundsiebzig gewesen sein.

Ende der Neunziger habe ich unsere Tochter nach Paris zum Bahnhof gebracht. Der TGV in die Bretagne fuhr von einer anderen Station ab, als von der, wo der Zug aus Köln ankam. Sie hätte sonst mit der Metro quer durch die Stadt fahren müssen. Mit fünfzehn! Ich bin mit ihr auf den Bahnsteig und habe sie in den richtigen Zug gesetzt. In Nantes wurde sie von einer uns unbekannten Familie abgeholt.

Noch am selben Tag bin ich zurück nach Düsseldorf. Fünfhundert Kilometer hin und fünfhundert Kilometer zurück.“

Der Grenzübergang näherte sich. Beziehungsweise das, was davon übrig geblieben war. Also eigentlich nichts.

Die Abfertigungsgebäude sind längst abgerissen. Nur die hellen Flecken im Asphalt erinnern daran, dass hier einmal etwas gestanden haben muss.

An der Einfahrt zum reichlich überdimensionierten Parkplatz tummelte sich eine Gruppe knallorangener Warnwesten.

„Ob die zum Rafting wollen?“

„Quatsch, hier ist weit und breit kein Fluss. Das sind belgische Polizisten.“

„Ich dachte, die Deutschen würden kontrollieren.“

„Das ist bestimmt das Empfangskomitee für die an der Grenze zurückgewiesenen Illegalen.”

„Und die müssen dann nach Belgien?”

„Da kommen sie ja her. 

„Viel zu tun bekommen dürften sie ja nicht.”

„Wenn du Illegale nach Deutschland bringen möchtest, kannst du neuerdings einfach ein Taxi bestellen. Das bringt Flüchtlinge dann da über die Grenze, wo nicht kontrolliert wird.”

„Der Aufwand nutzt also gar nichts. Vielleicht hätten sie besser mal bei den alten DDR-Grenzern nachgefragt. Die kennen sich bestimmt mit der Sicherung von Grenzen aus.“

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.“

Ein Stück weiter hinter dem fleckigen Asphalt kamen sie dann doch. Die neuen Grenzkontrollen.

Drei Mannschaftswagen des Bundesgrenzschutzes standen auf dem Parkplatz. Die provisorische Kontrollstelle, ein großes weißes Zelt, lag halb aufgebaut am Boden. Grenzschützer waren nicht zu sehen.

„Und das ist jetzt unser Schutz? “

„Wird schon noch. Auch die Polizei hat mal Wochenende.“

Das gleiche Bild auch an den nächsten Rastplätzen: Mannschaftswagen des Grenzschutzes und halb aufgebaute Zelte.

Unbehelligt erreichen Achim und Irene das Autobahnkreuz Aachen. Als sie Richtung Köln abgebogen sind, schaltet Achim das Radio ein.

Die Nachrichten: „Mehrere Personen wurden in Essen von mutmaßlich Rechtsradikalen angegriffen und verletzt. In Berlin wurden gestern Abend zwei Journalisten zusammengeschlagen, die über eine Demonstration berichten wollten.

Die Zahl der rechts motivierten Straftaten stieg nach Angaben des Innenministeriums im vergangenen Jahr auf fast vierzigtausend Delikte an. Das sind mehr als einhundert pro Tag.“

Irene blickte nachdenklich durchs Heckfenster auf den Wohnwagen, der unverdrossen hinter ihnen her schaukelte.

„Wer weiß, wofür wir dich noch brauchen …”


Jörn Wiertz, August 2025